Was ist die “neue Familie”?
Rein nach dem Motto “zuhaus’ ist da, wo der Schlüssel passt”, gilt wohl immer noch der Grundsatz, dass die Menschen, mit denen man sich die Wohnung teilt, einen Teil der eigenen Familie darstellt. Den Sonderfall der “Wohngemeinschaft” mal ausgenommen, lebt man entweder mit seinem/r Partner/in und/oder Kindern und/oder Eltern und/oder sonstigen Familienangehörigen zusammen. Die Familie als “Lebensgemeinschaft” – für welchen zeitlichen Abschnitt auch immer – muss also weder blutsverwandt sein (adoptierte Kinder, eingeheiratete Stiefeltern) noch der Legitimation des Staates oder der Kirche bedürfen, da zwei Eltern samt Kind(ern) auch unverheiratet durchaus als Familie zu bezeichnen sein sollten.
Mit dem Zusammenleben geht der Aspekt der quantitativen Zeit einher: Wer zusammenlebt, verbringt in der Regel viel Zeit zusammen. Ob jeder für sich liest, man gemeinsam kocht, isst, spielt oder sonstigen Tätigkeit nachgeht, so tut man dies zu einem großen Teil am gemeinsamen Wohnort; vom Arbeiten am Arbeitsplatz einmal abgesehen. Rein quantitativ verbringt man also – schlafen mit eingerechnet – häufig mindestens die Hälfte des Tages zuhause und damit auch mit den eigenen Mitbewohnern.
Selbstverständlich gehört ein Mensch – nur weil ich viel Zeit mit ihm verbringe – nicht gleichzeitig zur eigenen Familie. Der Arbeitskollege, der über 5 Jahre den Schreibtisch neben mir hatte, gehört ja ebenso wenig dazu wie der Busfahrer, der mich jeden Morgen 20 Minuten in die Stadt bringt.
Entscheidend ist also nicht die Menge an Zeit, sondern die Qualität der Zeit, die wir mit unseren Familienmitgliedern verbringen.
Essen wir zusammen und tauschen uns über unseren Tag aus?
Oder schweigen wir uns dabei zum größten Teil an?
Spielen wir am Abend Gemeinschaftsspiele miteinander?
Oder schauen wir stillschweigend fern?
Zeit ist nicht gleich Zeit. Genauso wenig wie Familie gleich Familie ist.
Erst die emotionale Bindung, die wir zu unseren einzelnen Familienmitgliedern aufbauen, gibt dem Begriff “Familie” seinen unbezahlbaren Wert und der einzige Weg dorthin führt über gemeinsam gelebte und erlebte Zeit. Fernsehen und stillschweigende Nahrungsaufnahme sind hier weder ein Erlebnis noch sorgen sie für Gemeinschaft.
Man mag einwenden, dass die – ach so hoch verehrte! – Schwiegermutter dann nicht zur Familie zähle, da sich die Qualität der mit ihr verbrachten Zeit eher durch charakteristisch laute Streits auszeichnet. Das mag sein. Vielleicht geht es hin und wieder aber nicht darum, sich das eigene Familienleben durch Aussortieren der bestehenden Mitglieder einfach zu machen, sondern die Zeit mit den traditionell Verwandten in welcher Form auch immer wertzuschätzen, das Beste daraus zu machen und gleichzeitig mit der Wahlfamilie in Form von Adoptivkindern oder “zur Familie gewordenen Freunden” zu ergänzen.
Einen so komplexen Begriff wie den der “Familie” auf eine Definition von überschaubarer Länge herunterzubrechen, ist aufgrund seiner zahlreichen Facetten sehr schwierig. Eventuell kann es gelingen, sich der verschiedenen Aspekte des familiären Zusammenseins hin und wieder zu erinnern und in unseren schnelllebigen, immer seltener von langen Ehen geprägten, Zeiten in der eigens definierten Familie ein Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit zu finden. Denn wenn wir all die Philosophie mal außer Acht lassen, so sind doch mit Sicherheit die Menschen Teil unserer Familie, an die wir im Urlaub stöhnend denken, wenn wir vor dem Postkartenstand stehen.